01.10.2015 O Pedrouzo de Arca - Santiago

Schon früh geht das Geraschel im Schlafraum los und ich bin nicht böse drum: Je früher ich losgehe, desto länger Zeit kann ich in relativer Ruhe gehen, desto später komme ich in die Pilgerpolonaise und desto früher komme ich in Santiago an. Zur Mittagsmesse in der Kathedrale sein, das wäre doch fein!

 

Es ist noch dunkel, als ich mich durch die Gegend stapfe. Vor mir gehen zwei französische Damen mit Stirnlampen. Die beim Packen aus dem Rucksack herauszulassen, daran habe ich natürlich nicht gedacht. Ich gehe einen Schritt schneller, um sie einzuholen und von ihnen den Weg geleuchtet zu bekommen, da springen die beiden auf die Seite und wollen mich vorbeilassen. Mit meinem mickrigen Französisch schaffe ich es, ihnen zu erklären, dass ich nur so schnell bin, weil mir nach ihrer Leuchtung geiert, und wir haben so alle drei einen sehr lustigen Start in den Tag.

 

Ich weiß noch genau, wie aufgeregt wir waren, als wir zum ersten Mal nach Santiago hineinliefen - oder vielmehr zum Monte do Gozo. Alles war so neu, so spannend, wir waren so hin- und hergerissen zwischen dort ankommen zu wollen, um mit unseren Pilgerfreunden den Abend zu verbringen und am nächsten Morgen ausgeruht nach Santiago zu kommen, und Traurigkeit, weil der Weg dann ja dann zu Ende war. Auch bei meinem zweiten Camino war ich so zerrupft.

 

Letztes Jahr war es beim ersten Ankommen (über Melide, also noch ein ganzes Stück früher auf dem Camino Francés) auch noch ein bisschen so. Da war ich geborgen in meiner Pilgerfamilie, von der ich mich in Santiago ja wieder verabschieden musste. Bei meinem zweiten Ankommen war es mir nur noch grausig: Die zweieinhalb Tage alleine haben mir gutgetan. Ich hätte den Weg auch nicht mit anderen Menschen teilen wollen. Da gehörte einfach meine Pilgerfamilie hin - jede andere Person wäre da einfach ... nicht richtig gewesen. Dann kam ich nach Arzúa und es hat mich fast umgehauen: Da waren so viele, die waren so laut, so ... unheimelig, so ... Nee, das wollte ich nicht haben. ich bin bis O Pedrouzo de Arca gelaufen, als wäre das Heilige Jakobchen hinter mir her und wollte mich in den Botafumeiro stopfen, um mich unter der Decke der Kathedrale herumschwenkeln zu lassen, und den Rest habe ich halt irgendwie hinter mich gebracht.

 

So geht es mir heute wieder: Ich bringe den Weg halt irgendwie hinter mich. Als es ein bisschen heller ist, überhole ich die beiden Leuchtedamen doch und genieße noch eine kurze Zeit alleine, aber nach und nach gerate ich in die Pilgerschlange und weiß ganz genau, dass ich ihr nicht entkomme.

 

Uh, ist das Gejammer  grausig!

 

Ich schaffe es und bin tatsächlich rechtzeitig in der Mittagsmesse. Für einen Sitzplatz hat es, ich bin ein bisschen sehr knapp dran, nicht mehr gereicht. Also stelle ich mich neben einen Herrn, den ich erst einmal keines Blickes würdige ... bis der mich in die Arme nimmt: Es ist der Franzose, der mich, kaum dass er mich gesehen hatte, in Berducedo gleich zum Pilzeessen eingeladen hatte. Wir haben uns dann immer wieder gesehen, dann ist er, wie (bis auf Petra) alle anderen die Südroute gegangen. Jetzt nimmt er mich in die Arme und ... ich bin angekommen. - Er weiß nicht, was er mir in diesem Moment getan hat. Ihm das zu erklären, dafür reicht mein Französisch nun wirklich nicht. Aber es ist mir ganz viel.

 

Und dann passiert etwas, was mir wieder eine Gänsehaut macht: Ich stelle mich zur Kommunion in die Reihe und werde erneut umarmt, diesmal von einer Dame. Ich frage erst nur, alles gut?, und bin ein bisschen durcheinander. Ich kriege ihr Gesicht weder auf die Ruta, noch auf den Primitivo eingeordnet. Da lacht sie: "Ich bin es doch, G.!" (Giselle, wenn du das liest: Sei bitte nicht böse, wegen des G.'s, deinen Namen auszuschreiben würde einfach irgendwie nicht in die Form passen). - Da endlich fällt bei mir der Groschen:

 

Wir "kennen" uns aus dem Pilgerforum und haben uns im Juni bei einem Pilgertreffen kennengelernt (dieses kennen kriegt eine Anführungszeichen, weil es ja wirklich kennen heißt. Ich finde es komisch, wenn man jemanden, den man nur aus dem Internet "kennt", als ihn zu kennen bezeichnet. Das passt fast genauso wenig wie, im Internet miteinander "befreundet" zu sein.Wenn ein Profilfoto auf dem Bildschirm reicht, um jemanden seinen Freund zu nennen, dann ist es nicht mehr weit hin mit Freundschaften. Ich unterscheide sehr geflissentlich zwischen Menschen, die ich kenne, Bekannten, guten lieben Bekannten, ganz lieben Bekannten, ganz arg lieben Bekannten und Freunden) (wo war ich? - Ach ja:) Ich stehe also in der Kathedrale in der Schlange zur Kommunion und werde von G. umarmt, die ich erst zuordnen kann, als sie mir sagt, wer sie ist. Kinders, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie das für mich ist! Das ist einer dieser absoluten Halsknödelmomente, die es sicher auch im Alltag gibt, die man da aber mit "so ein Zufall" abhandelt. Auf dem Camino ist das anders, da ist es ein kleines Wunder, das man auch als solches sieht und wahrnimmt und nicht einfach abwatscht. Das ist Camino!

 

Ich freue mich jedenfalls wie ein Seepferdchen und G.geht es, denke ich mal, nicht anders. Wir suchen uns jedenfalls nach der Messe gleich gegenseitig und verbringen einen ganz wunderschönen Nachmittag miteinander.

 

 

Als sie gehen muss, um ihre Mitpilger noch einmal zu sehen, fühle ich mich nun doch ziemlich einsam. Ich stelle mich im Pilgerbüro für meine Compostela an. Jajaja, ich höre euch stöhnen: Du bist ein Stück mit dem Bus gefahren und holst dir trotzdem die Compostela?! - Ja und ich habe auch kein schlechtes Gewissen dabei, denn als Wiedergutmachung für das Stückchen, das ich gefahren bin, bin ich ja ganz viel mehr gelaufen. Innerlich wappne ich mich ein bisschen auf lange Diskussionen bei meiner sportiven Compostela, dass in ihr auch meine Strecke auf der Ruta berücksichtigt wird. Aber die kommen gar nicht! Neben dem jungen Mädchen (hier arbeiten ganz viele ehrenamtliche Helfer, die die Compostelas ausstellen) sitzt ein älterer Herr, der genau weiß, von was ich spreche, und es dem Mädel erklärt. Och Menno, den hätte ich mir letztes Jahr auch gewünscht!

 

Dann habe ich also meine Compostelas in der Tasche. Hm. Okay. Und jetzt? - Oh ich weiß: Ich mache die Führung auf das Dach der Kathedrale mit. Die gibt es zwar nicht in Deutsch, aber mein Englisch reicht, um zu verstehen, was mir erklärt wird. Und auch mit ohne Erklärungen ist es ein ziemlich erhabenes Gefühl, auf diesem Dach zu stehen und auf die Stadt hinunterzugucken.

 

Auf dem Weg nach oben, kommen wir hier vorbei:

 

Wisst ihr, was das ist? Das ist eine Ratsche. Was für eine Ratsche, fragt ihr jetzt? - Ich muss ein bisschen grinsen, denn bei uns gibt es das tatsächlich: Wenn an Karfreitag die Kirchenglocken nach Rom fliegen, um dort gefüttert zu werden (diese Geschichte kenne ich zumindest so aus Seligenstadt und habe manchmal nachts aus dem Fenster geguckt, ob ich sie fliegen sehe), übernehmen (also hier in Wissedaal) Messdiener ihre Aufgabe und fahren in aller Hergottsfrühe durch die Straßen, singen laut einen Reim und kläppern mit ihren Ratschen. Als sie mich zum ersten Mal aus dem Bett warfen, war ich ganz verdattert: Was um Himmels Willen haben die denn getrunken (oder geraucht?), dass die einen solchen Heidenlärm veranstalten? Und warum echauffiert sich außer mir niemand über den Tammtamm? Irgendwann hat es mir irgendwer erklärt und ich finde es nur noch lustig ... auch wenn ich noch immer aus dem Bett falle. Nun muss ich aber auch zugestehen, dass ihre Ratschen kleiner sind; würden die mit so einem Ding durch die Straßen schäppern ...

 

In Santiago dürfen die Messdiener ausschlafen: Die Kathedrale hat eigens einen Ratschenturm für das Gekläpper währen der Zeit der Glockenfütterung.

 

Als ich vom Dach wieder herunterkomme, kommt gerade die Gruppe des spirituellen Rundgangs um die Kathedrale daher, denen ich mich kurzerhand anschließe und die letzten Minuten noch den Ausführungen der führenden Dame lausche. Ihr Gesicht ist hier richtig und hat sich bei mir irgendwie eingeprägt, jedenfalls ist es die gleiche, die letztes Jahr auch gerade hier war, als ich die Führung mitmachte. Und Kinders, das muss ich jetzt einfach mal sagen: Wenn ihr nach Santiago kommt, macht diese Führung! Sie ist wirklich klasse!

 

Kaum löst sich die Gruppe auf, steht M. vor mir und lächelt mich hungrig an. Neinneinnein, er ist nicht hungrig auf mich, er ist nur überhaupt hungrig.

 

Irgendwie ist Santiago MEINE Stadt - heute auch wieder: Mir passiert so viel Schönes und so Schlag auf Schlag, dass mir dabei richtig schwindelig wird! Wir gehen zu Manolo und haben für wenig Geld auch in einer so großen Stadt ein wunderbares Essen mit - Achtung! Ich habe es wirklich bestellt ...und genossen! - Tintenfisch in eigener Tinte! Eigentlich ist es eine Studentenkneipe, aber rund um uns herum sitzen ganz viele mir sehr bekannte und lieb gewordene Gesichter. Wir haben so einen schönen Abend!

 

Habe ich mich mittags einsam gefühlt? Nee, ne!

 

 

Vor lauter Quasseln verpasst M. fast seinen letzten Bus zum Monte do Gozo, wo er schläft. Heideröslein! Wir müssen ein bisschen wetzen und kommen gerade rechtzeitig, als der gerade um die Ecke gebogen kommt. Ich habe ihn zur Haltestelle begleitet, um diese Zeit noch mit ihm verbringen zu können, aber einen herzlichen Abschied kriegen wir nicht mehr hin. Dafür ist der Bus zu schnell. Aber das ist nicht schlimm, denn wir werden uns sicher morgen wieder über den Weg laufen; Santiago ist ein Dorf.

 

Ich schlendere durch die Straßen zurück. Jetzt bin ich allein, aber einsam fühle ich mich ganz und gar nicht. Es war so ein schöner Tag! Und ich bin so dankbar dafür.

 

Als ich wieder auf den Kathedralenplatz komme, spielt unter den Arkaden gegenüber eine galicische Musikgruppe, die ich mir natürlich unbedingt angucken muss. Und jetzt muss ich doch mal lachen: Da sind ganz viele von unterwegs und ruckzuck stehen wir Arm in Arm und schunkeln zur Musik. Wie könnte man sich schöner von Mitpilgern verabschieden? Dieser Abschied ist ein bisschen länger als der von M. Wir hören erst auf mit der Schunkelei, als die Musik zu Ende ist, drücken uns noch einmal und gehen dann alle unserer Wege.

 

Im Hotel kriege ich dann doch noch ein kleines Wehmutströpfchen: Hier gibt es Wifi, ich schau noch einmal auf mein Handy und finde eine Nachricht von A., in der sie schreibt, dass sie im Pinario sind, dort essen und Abschied von K. feiern. Den hab ich dann wohl verpasst, was mich schon ein bisschen traurig macht, denn ich hätte sie schon gerne noch einmal gedrückt. Wir hatten nicht nur viel Spaß miteinander, sondern auch Gespräche, die mich über das eine oder andere wirklich nachdenklich gemacht haben. Das war so wertvoll!

 

 

So schlupfel ich glücklich-traurig in mein Zimmer, in dem T., der die ungeheure Ehre und zweifelhafte Freude hat, auch die letzten beiden Nächte mit mir teilen zu "dürfen" (hihihi, der arme Kerl, als ob er nicht schon genug gelitten hätte!) ... mir schon vorausgeeilt ist und die Gelegenheit beim Schopf gepackt hat, ob meiner Abwesenheit auch der Abwesenheit meines ... etwas ... geräuschvolleren Atmens in Ruhe einzuschlafen.

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